Die Ärztekammer hat im November 2024 die neue Strategie verabschiedet – mit drei Fokusthemen: Entbürokratisierung, ausreichend Fachkräfte und erfolgreiche Ambulantisierung. Warum gerade diese?
Stefan Kaufmann (SKA): Unser «Strategiehaus» umfasst eine Vielzahl von Zielen, daher wollten wir bewusst einen Fokus setzen. Eine Strategie entsteht bekanntlich in mehreren Schritten. Auf dem Deutschen Ärztetag in Mainz haben wir festgestellt, dass diese drei Herausforderungen längst nicht mehr nur uns, sondern alle hoch entwickelten Gesund heitssysteme betreffen. Die meisten europäischen Länder und auch die USA sind damit aktuell gefordert.
Yvonne Gilli (YGI): Dies bestätigen auch unsere Umfragen unter Ärztinnen und Ärzten sowie politischen Entscheidungsträgern. Fachkräftemangel und Überregulierung sind im ärztlichen Alltag spürbar. Und die Ambulantisierung ist längst im Gang, die einen spüren sie mehr, die anderen weniger. Hier ist es besonders hilfreich zu schauen, wie dieser Prozess in Ländern verläuft, die weiter fortgeschritten sind – und von deren Erfahrungen zu lernen.
Wie stellt die FMH sicher, dass ihre Mitglieder aus diesen strategischen Massnahmen einen konkreten Nutzen ziehen?
YGI: Wir berichten oft, dass wir im Parlament viel Schaden abwenden. Das merken viele Ärztinnen und Ärzte nicht, weil er nicht eintritt. Was wir nicht abwenden konnten, auch wenn es nicht viel ist, ist jedoch unmittelbar spürbar. Daher müssen wir besser aufzeigen, was wir konkret tun und wo wir Erfolge erzielen. Solange wir jedoch nur reaktiv handeln und in der Flut der Themendynamik untergehen, verlieren wir unsere proaktive Gestaltungsfreiheit und Schlagkraft. Deshalb müssen wir uns auf die oben genannten Fokusthemen konzentrieren. Das müssen wir vermitteln – und unsere Mitglieder mobilisieren. Wenn Menschen merken, dass sie ihren Arbeitsalltag mitgestalten können, entsteht eine hohe intrinsische Motivation.
SKA: Zu den drei Fokusthemen erhalten wir bereits heute viele Rückmeldungen, weil sie unsere Mitglieder im Alltag beschäftigen und belasten. Mit der Fokussierung gelingt es uns, nicht nur auf politische Aktivitäten zu reagieren, sondern uns selber proaktiv mit unseren Anliegen und Lösungsansätzen einzubringen und damit unseren Beitrag zur gemeinsamen Lösungsfindung zu leisten. Unsere Strategie ist der Wegweiser, mit dem man bekanntlich leichter ans Ziel kommt.
Die Bürokratisierung steht im Sorgenbarometer der Ärzteschaft ganz oben. Was braucht es konkret, um die Ärztinnen und Ärzte zu entlasten?
YGI: Die ganze Gesellschaft bewegt sich in Richtung Überregulierung, deshalb müssen wir realistisch bleiben. Erstens dürfen wir nicht alles an die Politik delegieren, wenn wir Probleme erkennen. Wir müssen zuerst unseren eigenen Handlungsspielraum nutzen und wo immer möglich eigene Lösungen entwickeln. Zweitens müssen bürokratische Hürden, die uns in den Weg gestellt werden zum Beispiel neue Sterilisationsvorschriften in der ambulanten Medizin identifiziert und wenn möglich abgebaut werden. Drittens muss das Parlament für die Auswirkungen neuer Massnahmen sensibilisiert werden. Dazu braucht es seriöse Regulierungsfolgenabschätzungen in Zusammenarbeit mit Fachleuten. Generell empfiehlt sich der frühzeitige Einbezug der betroffenen Akteure. Ein Beispiel: Wir arbeiten zurzeit an einem elektronischen Rezept für Ärztinnen, Ärzte und Apotheken. Wenn dieses nicht nahtlos in die bestehende Primärsoftware der Arztpraxen integriert werden kann, wird es nicht funktionieren. Diese praktischen Auswirkungen aufzuzeigen, kann weder die Politik noch die Verwaltung leisten, hier sind wir gefordert.
SKA: Genau, sobald ein Bewusstsein dafür entsteht, wirken sich diese Überlegungen auf Gremien und Arbeitsprozesse aus. Im Generalsekretariat selbst sind wir dafür schon sensibler und kommen zu anderen Schlussfolgerungen. Es gibt viele Beispiele, wo Bürokratie nicht einfach hingenommen werden muss, sondern wo man insistieren und gegensteuern kann.
YGI: Unsere deutschen Kolleginnen und Kollegen haben ihrer Regierung übrigens einen Katalog mit 800 Massnahmen vor gelegt, die ersatzlos gestrichen werden könnten, ohne die Versorgung der Bevölkerung zu gefährden. Daran werden auch wir in der Schweiz arbeiten. [lacht]
Stefan Kaufmann, Generalsekretär der FMH, und Dr. med. Yvonne Gilli, Präsidentin der FMH. «Mit der Fokussierung gelingt es uns, nicht nur zu reagieren, sondern uns selber proaktiv mit unseren Anliegen und Lösungsansätzen einzubringen», sagt Stefan Kaufmann. (Foto: Vanessa Oskarsson, FMH)
Dasselbe gilt für den Fachkräftemangel – auch hier gilt: «Zuerst vor der eigenen Haustür kehren». Neue Arbeits zeitmodelle sind gesellschaftlich immer gefragter. Was können Spitäler und Ärzteschaft dazu beitragen?
YGI: Eine Besonderheit in unserem Beruf ist, dass ältere Generationen häufig 60- bis 80-Stunden-Wochen leisteten und das als selbstverständlich empfanden. Die junge Generation hat heute ein völlig anderes Verständnis von Work-Life-Balance. Ob man das gut findet oder nicht, ist zweitrangig – es ist die Realität und zwar nicht nur in der Schweiz. Für unseren Beruf ist das eine Herausforderung, denn es braucht mehrere Ärztinnen oder Ärzte, um eine Vollzeitstelle der älteren Generation zu ersetzen, damit die Versorgung sicherge stellt ist.
SKA: Hinzu kommen das Bevölkerungswachstum und der steigende Bedarf an medizinischen Leistungen. Wir können uns dieser Realität nicht verschliessen, sondern müssen geeignete Lösungen finden. Ärztinnen und Ärzte sollten diesen Wandel aktiv mitgestalten.
Was kann die Politik tun, damit ausreichend Fachkräfte ausgebildet werden, um die Versorgung sicherzustellen?
YGI: Zuerst muss man mit dem falschen Narrativ aufräumen, dass der Hausarztberuf unattraktiv sei und zu viele in die Spezialdisziplinen abwandern. Das Hauptproblem sind die zu wenigen Studienplätze in der Schweiz sowie unsere hohe Abhängigkeit vom Ausland. Wir bilden in der Schweiz einfach zu wenig Ärztinnen und Ärzte aus. Der Anteil derjenigen, die in die Hausarztmedizin gehen, ist hingegen seit Jahren stabil und hat nicht abgenommen. Wer aber grundsätzlich zu wenig Ärztinnen und Ärzte ausbildet, dem fehlen auch die Hausärztinnen und Hausärzte. Zudem kommen Fachärztinnen und Fachärzte meist aus dem Ausland, weil sie mobiler sind. Eine Hausarztpraxis ist dagegen regional verankert. Wir müs sen also mehr Studien und Weiterbildungsplätze in der Schweiz schaffen.
SKA: Zudem sind wir durch den Föderalismus stark auf stationäre Ausbildungsstrukturen ausgerichtet. Durch die fort schreitende Verlagerung von stationären zu ambulanten Behandlungen – also die Ambulantisierung – werden diese Kapazitäten knapper. Wir brauchen mehr Ausbildungsplätze für alle Fachrichtungen im ambulanten Bereich. Das ist eine grosse Herausforderung für die Kantone, die gemeinsame Lösungen finden müssen. Die FMH wird ihren Beitrag dazu leisten, dass dies gelingt.
Die Ambulantisierung wurde mehrfach erwähnt. Wie gelingt eine erfolgreiche Begleitung?
YGI: Weiterbildungsplätze im ambulanten Bereich werden heute durch die FMH massgeblich mitgestaltet und finanziert. Das ist aber nicht nur eine ärztliche, sondern auch eine öffentliche Aufgabe, weshalb die Kantone mitziehen müssen. Ambulantisierung kann nur mit integrierter Versorgung und digitalen Lösungen gelingen. Wer zu Hause gepflegt oder frühzeitig aus dem Spital entlassen wird, braucht eine engmaschige Betreuung durch interprofessionelle Teams, unterstützt von elektronischen Hilfsmitteln. Zentral ist die Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen und Ärzten und anderen Gesundheitsberufen wie der Spitex, die im ambulanten Bereich spezialisiert ist. Insbesondere auch an der Schnittstelle zwischen stationärem und ambulantem Bereich sind wir gefordert. Wir müssen unsere Bedürfnisse klar formulieren, damit die Politik realistische Rahmenbedingungen setzen kann.
SKA: Bisher wurde die Schweiz im Ausland für ihre integrierte Versorgung bewundert. Jetzt, mit der einheitlichen Finanzierung, können Kantone und Versicherer gemeinsam mit den Leistungserbringern die Ressourcen steuern. Wir sollten diesen Prozess im föderalen Gesundheitssystem «gut schweizerisch und eben ohne Überregulierung entwickeln.
YGI: Wir haben die Chance, unsere Versorgung langfristig zu sichern. Dabei dürfen wir nicht kurzsichtig handeln. Einige Kantone werden aufgrund der unterschiedlichen Ausgangslage vorübergehend mehr finanzieren müssen. Dies darf nicht zu überstürzten Eingriffen führen, bevor sich das System etabliert hat. Ein Blick nach Japan zeigt, wie dramatisch die Folgen sein können, wenn solchen Entwicklungen nicht rechtzeitig begegnet wird: Trotz eines hohen Entwicklungsstandes fehlt es dort an Finanzierung und Fachkräften, so dass Einrichtungen für pflegebedürftige Menschen geschlossen werden, ohne dass es Nachfolgelösungen gibt. Die Folgen für vulnerable Bevölkerungsgruppen und ihre Angehörigen sind gravierend.
Yvonne Gilli und Stefan Kaufmann. «Wir dürfen nicht alles an die Politik delegieren, sondern müssen zuerst unseren eigenen Handlungsspielraum nutzen», sagt die FMH-Präsidentin. (Foto: Vanessa Oskarsson, FMH)
Ein wichtiges strategisches Ziel der FMH ist ein starker Berufsverband. Für das Jahr 2024 ist dieses Ziel erreicht, oder?
YGI: Zwei Volksabstimmungen zu gewinnen war kein Spaziergang. Das verdeutlicht unsere Stärke, auch in Allianz mit weiteren Gesundheitsberufen. Wir sind stolz auf das Verhandlungsergebnis, dass die ambulante Tarifrevision nun mit flankierenden Rahmenbedingungen umgesetzt wird, die die Grundversorgung sichern. So müssen Psychiaterinnen und Psychiater, Kinderärztinnen und Kinderärzte sowie Hausärztinnen und Hausärzte nicht für Kostensteigerungen geradestehen, die sie gar nicht verursacht haben. Zudem wird sichergestellt, dass unsachgemässe Pauschalen, die bestimmte Fachdisziplinen benachteiligen, unverzüglich überarbeitet werden. Hier zeigt sich auch unsere innere Stärke, denn wir sind auf die Mitgestaltung unserer Mitgliedsorganisationen angewiesen.
SKA: Die Ärzteschaft zeichnet sich durch eine ausgeprägte Tatkraft aus. Die Ärztinnen und Ärzte packen tatkräftig an, wenn es etwas zu tun gibt. Das kommt auch der FMH zugute und hat sich im Jahr 2024 deutlich gezeigt. Mit dieser Handlungsstärke und einem strategischen Fokus können wir viel bewegen, müssen sie aber auch im richtigen Kontext einsetzen und unsere beschränkten Ressourcen gezielt nutzen.
YGI: Bei aller Stärke neigen wir vielleicht manchmal zum Übereifer und laufen Gefahr, zu schnell zu handeln und bestehende Dynamiken unnötig anzuheizen. Deshalb gilt es, diesen Tatendrang in geordnete Bahnen zu lenken, dabei lohnt es sich, stets die Aussensicht einzubeziehen.
Abschliessend wagen wir einen Blick in die Zukunft: Welches Ziel habt ihr euch gesetzt, um in einem Jahr sagen zu können: «Wir sind einen entscheidenden Schritt weitergekommen»?
SKA: Wir haben im Zentralvorstand und im Generalsekretariat ein klares Bewusstsein für unsere neue Strategie entwickelt. Zwischen der Erkenntnis und dem konkreten Handeln liegt aber der schwierigste Teil: die Umsetzung. Wenn wir diesen Weg gemeinsam und wachsam gehen, werden wir unsere Ziele erreichen. Das geht nicht von heute auf morgen, aber wir spüren den Willen dazu. Deshalb gilt es, unsere Stärken zu bewahren und ungenutzte Potenziale zu erschliessen.
YGI: Neben übergeordneten Zielen wie der Organisationsentwicklung gibt es auch konkrete Projekte: Zum einen wollen wir bis Mitte Jahr eine neue Schweizerische Ärztezeitung etablieren und die Kommunikationsstrategie überarbeiten, um den Austausch mit unseren Mitgliedorganisationen und den einzelnen Mitgliedern zu verstärken. Zudem müssen wir gemeinsam mit unseren Mitgliederorganisationen die Umsetzung der grossen Tarifreform erfolgreich vorantreiben. Hier warten wir noch auf den Entscheid des Bundesrates, aber unsere Aufgabe ist es, die Reform praxistauglich auf den Boden zu bringen. Diese beiden Punkte möchte ich als Präsidentin im kommenden Jahr konkret angehen.
Was wünscht ihr den Mitgliedern der FMH und euren Kolleginnen und Kollegen für das neue Jahr?
SKA: Nach diesem intensiven Jahr wünsche ich allen, dass sie ihre Energie und Tatkraft mitnehmen – und natürlich, dass sie gesund bleiben. Wir wissen: «Gesundheit ist alles». Ich hoffe, dass wir zusammen mit unseren engagierten Mitarbeitenden im Generalsekretariat und den Mitgliedorganisationen ein erfolgreiches – hoffentlich etwas weniger intensives – Jahr gestalten können.
YGI: In diesen herausfordernden Zeiten wünsche ich, dass wir uns wieder auf die ursprüngliche Berufsmotivation besinnen können – auf das, was uns dazu bewogen hat, diesen schönen Beruf zu ergreifen. Verbinden wir dieses positive Gefühl mit der Kraft, die Zukunft aktiv mitzugestalten. Das wünsche ich uns allen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
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