FMH – Berufsverband
 
SÄZ - Schweizerische Ärztezeitung
Ausgabe 03-04 Weitere Organisationen und Institutionen – Schweizerische Balintgesellschaft

Die Aktualität der Balintgruppe heute

Arzt-Patient-Beziehung Die Balint-Gruppenarbeit untersucht das interaktive Geschehen in der ärztlichen Sprechstunde und stärkt die kommunikative Kompetenz des Arztes/der Ärztin.

Kathrin Bichsel
Dr. med., FMH Psychiatrie und Psychotherapie, Mitglied der Schweizerischen Balintgesellschaft

Regine Mahrer
Dr. med., FMH Psychiatrie und Psychotherapie, Mitglied der Schweizerischen Balintgesellschaft

Alexander Minzer
Dr. med., FMH Allgemeine Innere Medizin spez. Psychosomatische und Psychosoziale Medizin SAPPM, Präsident der Schweizerischen Balintgesellschaft

Michel Dafflon
Dr. med., FMH Allgemeine Innere Medizin spez. Psychosomatische und Psychosoziale Medizin SAPPM, Mitglied der Schweizerischen Balintgesellschaft

«Und jetzt ist heute Abend auch noch Balintgruppe – wozu tue ich mir das an?» Nach einem langen und anstrengenden Tag als Arzt/Ärztin in der Praxis oder im Spital noch in die Balintgruppe zu gehen, kostet oft Überwindung. Diesen Effort leistet nur, wer sich davon etwas verspricht.

Was ist Balintarbeit?
Die Balintgruppen-Arbeit geht zurück auf den Arzt und Psychoanalytiker Michael Balint (1896 – 1970). Balint ist als Sohn eines Hausarztes in Budapest aufgewachsen, studierte dort Medizin und liess sich in Berlin und Budapest zum Psychoanalytiker ausbilden. Sein Interesse galt zeit seines Lebens sowohl der naturwissenschaftlichen Medizin als auch der Psychoanalyse [1]. Bereits in Budapest führten er und seine erste Ehefrau Alice mit Hausärzten und -ärztinnen Seminare durch «zum Studium der psychotherapeutischen Möglichkeiten in der täglichen Praxis» [2].
1939 emigrierte Balint nach London, wo er nach dem 2. Weltkrieg begann, mit Allgemeinärzten konsiliarisch zu arbeiten. Gemeinsam mit ihnen erforschte er ab 1949 in den von ihm so bezeichneten «training cum research»- Gruppen die Arzt-Patient-Beziehung [3]. Sein Grundgedanke dabei war, dass «das am allerhäufigsten verwendete Heilmittel der Arzt selber sei» und «dass es für dieses hochwichtige Medikament noch keinerlei Pharmakologie gab» [3, S. 15]. Er wollte den Hausärzten in den Gruppenseminaren nicht theoretische Kenntnisse in Psychopathologie oder Psychodynamik vermitteln, sondern sie befähigen «darauf zu horchen, was sich in der Arzt-Patient-Beziehung abspielt» [3, S. 186]. Ein weiteres Ziel der Fall-Seminare bestand darin gemeinsam herauszufinden, wie die Psychoanalyse mit ihrer besonderen Sicht der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Arbeit am Unbewussten in der täglichen Praxis von Nutzen sein konnte [4].
Als Psychoanalytiker waren Balint als Grundlagen für diese Arbeit wesentliche psychodynamische Konzepte hilfreich: Um auch die unbewussten Komponenten beider Beteiligten – Ärztin und Patient – zutage treten zu lassen, forderte er die Teilnehmenden auf, für die Fallvorstellung frei und spontan über ihre Erfahrungen mit dem vorgestellten Patienten zu berichten. Vorbereitete Manuskripte lehnte er ab, weil sie bereits eine sekundäre Bearbeitung des Materials darstellen. Die Gruppenteilnehmenden waren gebeten, der Erzählung der Kollegin/des Kollegen mit gleichschwebender Aufmerksamkeit zuzuhören und anschliessend in freier Assoziation ihre Einfälle, Gefühle, Phantasien und Bilder mitzuteilen. Im Resonanzraum der Gruppe entstand so ein neuer Blick auf das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen in der vorgestellten Arzt-Patient-Beziehung [5].
Diese von Balint entwickelte Form der Balintgruppen wird bis heute so durchgeführt: 8 – 12 Berufspersonen mit direktem Kontakt zu Patienten/Patientinnen treffen sich regelmässig, meist in Intervallen von 2 – 4 Wochen, zu Sitzungen von 90 – 120 Minuten. Die Gruppe wird geleitet von einem/einer psychoanalytisch ausgebildeten Balintgruppenleiter/leiterin mit eigener Erfahrung in Balintarbeit als Teilnehmer/in und mit einer Ausbildung in Balintgruppenleitung.

Freier Bericht und freie Assoziation als Essenz der Balintarbeit
Die Fallbearbeitung in der Balintgruppe funktioniert als Resonanzraum, in welchem bisher unbewusste Aspekte in der vorgestellten Beziehung für alle Beteiligten körperlich, emotional und gedanklich fassbar werden können [5]. Für die fallvorstellende Ärztin/den Arzt entsteht so ein erweitertes Verständnis  des Geschehens in der Sprechstunde, es entwickelt sich «ein neuer Blick mit eigenen Augen».
Voraussetzungen, damit das gelingt, sind der freie und spontane Fallbericht und das anschliessende Gruppengespräch in freier Assoziation. Die Form des freien Berichtes, Wortwahl, Tonfall und Mimik der vorstellenden Person, ermöglichen einen unverstellten Blick auf das, was sich in der Sprechstunde des Arztes, in der unmittelbaren Begegnung zwischen ihm und der Patientin, abspielt. Dieser freie Fallbericht fällt gerade akademisch geschulten Berufsleuten erfahrungsgemäss schwer. Sie haben – sozusagen als «Experten des Wissens» [6] - gelernt, geordnete Berichte zu verfassen und in logischen Zusammenhängen zu denken. Sich mit einem freien Bericht zu exponieren erfordert Mut. Balint nannte es den «Mut zur eigenen Dummheit» [3, S. 408].
Im anschliessenden frei assoziierenden Austausch der Gruppenmitglieder zu ihren Eindrücken antworten die einzelnen Teilnehmerinnen je auf dem Hintergrund ihrer eigenen persönlichen und beruflichen Biographie auf Aspekte der vorgestellten Geschichte. Wenn es die Gruppe wagt, die wirklich eigenen Reaktionen und Phantasien mitzuteilen, entsteht so ein facettenreiches Bild des Beziehungsgeschehens. Die Interaktionen in der Gruppe können zum Spiegel dessen werden, was sich zwischen Ärztin und Patient abspielt [7]. Dabei ist der Verzicht auf Rationalisierungen, auf die Diskussion medizinischer und psychopathologischer Diagnosen und auf Lösungsvorschläge, wie sie in Gesprächen unter Medizinern und Medizinerinnen rasch entstehen, nicht einfach, eröffnet aber neue Perspektiven.
Die Funktion der Gruppenleitung besteht neben ihrer strukturierenden Rolle (Setting, zeitlicher Ablauf) darin, einen Raum zu schaffen, welcher der Gruppe das Eintauchen in die Welt des Assozierens, des Nicht-Wissens ermöglicht. Es soll idealerweise eine Atmosphäre entstehen, in der die Teilnehmenden Vertrauen entwickeln können, damit sie sich in der Arbeit mit ihren Patienten und Patientinnen auch von ihrer persönlichen Seite zeigen können [7].

Anwendungsgebiete, Ziele und Ergebnisse der Balintarbeit
In ihrer «klassischen» Anwendung dient Balintarbeit der Weiter- und Fortbildung für praktizierende Ärztinnen und Ärzte. Balintarbeit wird eingesetzt in der Facharztweiterbildung, in Deutschland obligat in Fächern der Grundversorgung [1].
Die Mitarbeit in einer Balintgruppe verhilft dazu, die Wahrnehmung von Zwischentönen zu schärfen, scheinbar Unwichtiges zu gewichten und führt so schliesslich zu einer erweiterten Sicht auf das Geschehen in der eigenen Sprechstundentätigkeit. Sie ermutigt die Ärztin/den Arzt, das eigene Erleben und Denken wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Es sind nicht die Vorschläge Anderer, die in der Lösung einer blockierten Beziehung weiterführen, sondern der «neue Blick mit eigenen Augen» der Fallvorstellenden. Häufig wird von diesen berichtet, die nächste Begegnung mit dem Patienten/der Patientin sei ganz anders, entspannter, gewesen. Allen Teilnehmenden ermöglicht die Mitarbeit in einer Balintgruppe, eigene eingeschliffene Reaktionen in zwischenmenschlichen Interaktionen selbstreflektierend zu erkennen. Somit ist die Balintgruppe keine Selbsterfahrungsgruppe im engeren Sinn, der lebensgeschichtliche Bezug der einzelnen Teilnehmenden wird nicht explizit aus- oder angesprochen, kann aber von jedem für sich selbst verstanden und somit integriert werden. Die Balintarbeit grenzt sich wie beschrieben auch von der Supervision im engeren Sinne ab, enthält aber Anteile supervisorischer Elemente. Historisch wird Balintarbeit als eine der Wurzeln von Supervision überhaupt angesehen [1].

Erfahrungen von Teilnehmenden
Abschliessend lassen wir Teilnehmende zu Wort kommen. Die Zitate stammen aus Umfragen in kontinuierlichen Balintgruppen und an Balint-Tagungen

  • «Ich achte mehr auf meine Gefühle während der Arbeit am und mit meinem Patienten.»
  • «Es ist beruhigend und befreiend, zu merken, dass alle um mich herum auch nur mit Wasser kochen, und ich empfinde das als Anti-Burn-Out.»
  • «Auf dem Hintergrund des gegenseitigen Vertrauens ist es auch möglich, negative Gefühle und Phantasien ohne Scham zu äussern.»
  • «In kritischen Situationen und bei schwierigen Patienten hilft mir manchmal schon der Gedanke weiter, dass ich den Fall ja dann noch in der Balint-Gruppe bringen könnte. So fühle ich mich sicherer und schaffe es dann oft auch alleine.»
  • «Unterschied zum Qualitätszirkel ist der ganz subjektive, persönliche Ansatz ohne Druck, dass man ‚Fachperson’ sein muss und eigentlich ‚alles’ wissen sollte und auch der sehr respektvolle Umgang der Teilnehmer miteinander.»
  • «Ich sehe wieder vermehrten Spielraum, und fast immer gehe ich mit neuer Lust in die nächste Stunde mit dem besprochenen Patienten.»

Um auf den Anfang des Textes zurückzukommen: Aus solchen vielschichtigen Gründen «tun es sich Ärztinnen und Ärzte an» regelmässig (oft jahrelang) abends in einer Balintgruppe teilzunehmen oder Arbeitstage für die Teilnahme an einer Balint-Tagung einzusetzen.

Korrespondenz

[email protected]

Balint-Arbeit – Angebote in der Schweiz

Kontinuierliche Balintgruppen in der ganzen Schweiz: https://balint.ch/index.html#balint-gruppe

Jährliche Balinttagungen:

  • Interdisziplinäre Balint-Tage am Bodensee (Schloss Wartegg, Rorschacherberg / SG, jeweils im Juni)
  • Silser Balint-Studienwoche (Sils im Engadin, jeweils anfangs September)
  • Interdisziplinärer Balinttag Münchenbuchsee (Privatklinik Wyss, Münchenbuchsee, jeweils im Herbst)

Alle Informationen sowie Links zu den Tagungen finden Sie auf der Homepage der Schweizerischen Balintgesellschaft: www.balint.ch

Literatur

  1. Mattke D., Otten H: Balintgruppen, Supervision in medizinischen Handlungsfeldern. Kohlhammer, Stuttgart 2020
  2. Biographische Mitteilung von M. Balint, zitiert in Luban- Plozza B., Otten H., Petzold U. und E: Grundlagen der Balintarbeit - Beziehungsdiagnostik und – therapie. Bonz Verlag Leinfelden - Echterdingen 1998
  3. Balint M.: Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Dt. 7. Auflage Klett-Cotta 1988
  4. Sklar J: Zur Bedeutung der Balintgruppen. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 77, frommann-holboog 2018
  5. Bakhit C, Staats H: Supervision in Gruppen. Gemeinsam lernen und erkennen. Kohlhammer Stuttgart 2021
  6. Herzog P.  «Die Bedeutung der Balint-Arbeit in Zeiten des Umbruchs in der Medizin». Balint-Journal 2021; 22: 80–86
  7. Otten H. «Professionelle Beziehungen. Theorie und Praxis der Balintgruppenarbeit». Springer Verlag Berlin Heidelberg 2012

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