Hiermit erhalten Sie den Jahresbericht der FMH-Gutachterstelle erstmals in digitaler Form. In der Schweizerischen Ärztezeitung publizieren wir weiterhin die Zahlen zu den Gutachten, welche die FMH im jeweils vergangenen Jahr erstellt hat. Die statistische Analyse und die Informationen zu den verschiedenen Tätigkeiten der Gutachterstelle werden neu an dieser Stelle veröffentlicht.
Wie in den Vorjahren wurde die Gutachterstelle 2021 regelmässig in Anspruch genommen. Wenn ein Antrag auf Begutachtung gestellt wird, geschieht dies in einem schwierigen persönlichen Kontext für den betroffenen Patienten beziehungsweise die betroffene Patientin, und stellt auch den betroffenen Arzt beziehungsweise die betroffene Ärztin vor Herausforderungen. Jedes dieser Verfahren erfordert daher nicht nur Kenntnis des Reglements sondern auch Fingerspitzengefühl und Flexibilität. Daraus ergibt sich eine sehr interessante, erkenntnisreiche Tätigkeit mit vielen zwischenmenschlichen Begegnungen.
Das erste FMH-Gemeinschaftliche Gutachterkonsilium wurde 2021 durchgeführt und war ein voller Erfolg. Solche mündlichen Erörterungen sind für alle Beteiligten sehr emotional und erfordern besonders viel Respekt und Toleranz.
2021 konnte die Gutachterstelle ihre Zusammenarbeit mit den medizinischen Fachgesellschaften intensivieren und die Ausbildung für medizinische Gutachter zum Thema Arzthaftpflicht durchführen.
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!
Die aussergerichtliche Gutachterstelle der FMH organisiert medizinische Gutachten um zu ermitteln, ob in einem konkreten Fall ein Arzt oder eine Ärztin eine Sorgfaltspflichtverletzung begangen hat und/oder ein Organisationsverschulden der betroffenen Einrichtung vorliegt. Anträge auf Begutachtung werden durch Patienten für Behandlungen eingereicht, die in der Schweiz stattgefunden haben. Das Verfahren ist durch das Reglement festgelegt.
Die Gutachten werden grundsätzlich schriftlich erstellt. Die Parteien haben jedoch die Möglichkeit, ein FMH-Gemeinschaftliches Gutachterkonsilium zu beantragen. Dabei handelt es sich um ein mündliches Verfahren, das im Rahmen eines bis zum 31. Dezember 2023 laufenden Pilotprojekts eingeführt wurde.
Die Gutachterstelle arbeitet eng mit den betreffenden medizinischen Fachgesellschaften zusammen, sodass unabhängige und kompetente Gutachter gefunden werden können. Nach Kenntnisnahme des gesamten Dossiers nominieren die Fachgesellschaften die medizinischen Gutachter oder bestätigen diese.
Für ein schriftliches oder mündliches Gutachten muss der Patient eine Bearbeitungsgebühr von CHF 1000 zuzüglich MwSt. entrichten. Das Honorar des Gutachters wird von den Haftpflichtversicherern (welche Mitglied des Schweizerischen Versicherungsverbands SVV sind) der Ärzte oder Spitäler übernommen. So bleiben die Kosten des Verfahrens für den Patienten oder die Patientin überschaubar.
Die Gutachterstelle ist ein nützliches und effizientes Instrument, mit dem die Parteien ihre Rechtsstreitigkeit aussergerichtlich beilegen können.
1Umfasst schriftliche Gutachten und FMH-Gemeinschaftliche Gutachterkonsilien.
2Der Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung deckt Diagnose- bzw. Behandlungsfehler, Verletzungen der Aufklärungspflicht sowie Organisationsverschulden ab.
3Die Kausalität gilt als bejaht, wenn der Gutachter oder die Gutachterin sie als sicher, sehr wahrscheinlich oder überwiegend wahrscheinlich eingestuft hat.
4Im Falle multidisziplinärer Gutachten wird jede festgestellte Sorgfaltspflichtverletzung dem entsprechenden Fachgebiet zugeordnet. Die Zahl der erstellten Gutachten und die Zahl der in den verschiedenen Fachgebieten festgestellten Sorgfaltspflichtverletzungen können deshalb voneinander abweichen.
Keine Repräsentativität auf Schweizer Ebene
Die genannten Zahlen spiegeln lediglich die Tätigkeit der FMH-Gutachterstelle im Jahr 2021 wider. Diese hat kein Monopol für das Erstellen von Gutachten: die Patienten geben regelmässig private Gutachten in Auftrag, und die Spitäler bearbeiten jedes Jahr selbst mehrere bei ihnen anhängig gemachte Vorwürfe von Sorgfaltspflichtverletzungen oder Organisationsverschulden. Aufgrund der geringen Datenbasis und der fehlenden Vergleichswerte wäre es also nicht zulässig, auf der Grundlage dieser Statistik Hochrechnungen betreffend die Häufigkeit der jährlichen Sorgfaltspflichtverletzungen in den verschiedenen Fachgebieten oder allgemein in der Schweizer Medizin anzustellen.
Nur teilweise Spiegelung der geleisteten Arbeit der Gutachterstelle
Die Statistik gibt nur die Ergebnisse der im Jahr 2021 erstellten 45 Gutachten wieder, nicht aber den hohen Verwaltungsaufwand, den unsere Gutachterstelle im Vorfeld betreibt. Die Gutachterstelle analysiert die neuen Anträge – im Jahr 2021 waren es 99 – im Hinblick auf ihre Konformität mit dem Reglement und fordert bei Bedarf die fehlenden Belege und Unterlagen an. Von diesen 99 Anträgen wurden 59 an die Delegierten der betreffenden Fachgesellschaft verschickt. Die restlichen Anträge befinden sich in Bearbeitung. Die Beratung von Patientinnen und Patienten, selbst dann, wenn eine Fragestellung nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fällt, gehört als integraler Bestandteil zur Tätigkeit der Gutachterstelle.
Der Arzt schuldet eine sorgfältige Behandlung, unabhängig ob dieser privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich tätig wird. Die Sorgfaltspflicht umfasst die gesamte Behandlung.
Der ärztliche Soll-Sorgfaltsmassstab orientiert sich am objektiv anerkannten Stand der ärztlichen Wissenschaft im Zeitpunkt der Behandlung. Das Bundesgericht hat erwogen, dass in der Medizin die wissenschaftlichen Ergebnisse voneinander abweichen und die Meinungen verschieden sein können. Der objektiv betrachtete Stand der Wissenschaft berechtigt folglich den Arzt, sich zwischen verschiedenen Therapien oder anderen Massnahmen zu entscheiden. Eine Pflichtverletzung ist daher nur dort gegeben, wo eine Diagnose, eine Therapie oder ein sonstiges ärztliches Vorgehen nach dem allgemeinen fachlichen Wissensstand nicht mehr als vertretbar erscheint und damit ausserhalb der objektivierten ärztlichen Kunst steht.
Zusätzlich kann dem Spital ein Organisationsverschulden vorgeworfen werden, wenn dieses die interne Organisation nicht so umsetzt, dass die Patienten einem möglichst geringen Risiko ausgesetzt werden. Auch dem Spital kann in diesem Fall eine Sorgfaltspflichtverletzung vorgeworfen werden.
Diese Aspekte hat der Gutachter als Kernfragen bei der Begutachtung zu beurteilen.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie im Artikel «Kernaussagen zum Arzthaftungsrecht» von Dr. iur. Iris Herzog-Zwitter vom 2. Februar 2022.
Die Gutachterstelle organisiert kein Gutachten, wenn allein die Frage strittig ist, ob die Aufklärung des Patienten oder der Patientin ausreichend war. Diese Frage wird jedoch regelmässig parallel zum Vorwurf einer Sorgfaltspflichtverletzung oder eines Organisationsverschuldens durch die Gutachter und Gutachterinnen untersucht.
Eine fehlende beziehungsweise unzureichende Aufklärung führt zur Haftung des behandelnden Arztes oder der behandelnden Ärztin, selbst dann, wenn der Patient oder die Patientin mit der gebührenden Sorgfalt behandelt wurde. Die Behandlung ist in diesem Fall sogar rechtswidrig, da der Patient oder die Patientin nicht rechtsgültig einwilligen konnte. Der Nachweis der ausreichenden Patientenaufklärung ist Aufgabe des Arztes beziehungsweise der Ärztin.
Die Gutachter müssen einerseits bestimmen, in welchem Masse der Patient oder die Patientin aufgeklärt werden sollte, und andererseits, wie diese Aufklärung zu dokumentieren ist.
2021 wurde nur in einem Gutachten eine Verletzung der Aufklärungspflicht festgestellt, ohne dass auch ein Diagnose- und/oder Behandlungsfehler beziehungsweise ein Organisationsverschulden vorgelegen hat. Eine Kausalität im Hinblick auf den Gesundheitsschaden wurde nicht anerkannt.
Weitere Informationen zur ärztlichen Aufklärungspflicht finden Sie im Artikel «Kernaussagen zum Arzthaftungsrecht» von Dr. iur. Iris Herzog-Zwitter vom 2. Februar 2022.
Wird eine Sorgfaltspflichtverletzung bzw. ein Organisationsfehler festgestellt, muss der Gutachter abklären, ob diese Verletzung bzw. dieser Fehler die Ursache des vom Patienten geltend gemachten Gesundheitsschadens ist. Auch diese Frage ist eine Kernfrage des Gutachtens.
Liegt ein Aufklärungsfehler vor, hat der Gutachter zu beurteilen, ob die Gesamtbehandlung zum Gesundheitsschaden geführt hat, auch wenn diese lege artis durchgeführt wurde.
Bei der Beurteilung des natürlichen Kausalzusammenhangs muss der Gutachter feststellen, wie sich der Gesundheitszustand des Patienten ohne die festgestellte Verletzung bzw. ohne die Behandlung darstellen würde. Der Gutachter äussert sich zur Kausalität nur in medizinischer, nicht aber in rechtlicher Hinsicht.
Zudem hat der Gutachter zu beurteilen, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Fehler bzw. die Behandlung zum Gesundheitsschaden geführt hat. Ein Schadenersatzanspruch ist dann gegeben, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden kann. Der Gutachter hat auch darzulegen, ob es noch Kofaktoren gibt, d.h. andere Ursachen, die zum Schaden geführt haben, und ob diese Ursachen auch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben sind.
Im Jahr 2021 wurden 22 Sorgfaltspflichtverletzungen bzw. Organisationsfehler bejaht. Davon haben die Gutachter die Kausalität in 17 Fällen anerkannt.
Durch eine hochwertige Qualität der FMH-Gutachten geniessen diese einen hohen Beweiswert. Diese Qualität wird durch die folgenden Mechanismen sichergestellt:
Um die Zusammenarbeit mit den medizinischen Fachgesellschaften zu stärken und um Prozesse zu optimieren, fand 2021 zweimal ein Treffen mit den jeweiligen Delegierten der medizinischen Fachgesellschaften statt. Die Arbeit der Delegierten ist für die Gutachterstelle von grosser Wichtigkeit, nur mit deren Mitwirkung können hochwertige medizinische Gutachten organisiert werden.
Im Rahmen eines bis Ende 2023 angelegten Pilotprojekts eröffnet das Reglement die Möglichkeit eines FMH-Gemeinschaftlichen Gutachterkonsiliums (FMH-GGK). Dabei handelt es sich um ein mündliches Verfahren, bei dem der Gutachter den Parteien am runden Tisch medizinische Fragen erläutert. Auch hier geht es um die Klärung der ärztlichen Sorgfaltspflichtverletzung bzw. eines Organisationsverschuldens, des Gesundheitsschadens und der Kausalität. Der Fall muss für eine solche Gutachtenart geeignet sein, ebenso wie sämtliche Parteien mit einem solchen Vorgehen einverstanden sein müssen.
Im 2021 konnte ein FMH-GGK erfolgreich durchgeführt werden.
Die Rechtsanwältinnen der Gutachterstelle referieren laufend an verschiedenen Veranstaltungen, welche die Ausbildung medizinischer Gutachter oder das Haftpflichtrecht allgemein betreffen.
2021 hat die interdisziplinäre Plattform für Versicherungsmedizin SIM per Videokonferenz stattgefunden.
Die FMH und SIM haben ein Ausbildungsangebot für medizinische Gutachter zum Thema Arzthaftung lanciert. Dabei handelt es sich um ein Einzelmodul, bei dem Juristen und Ärzte spezifische Themen der Arzthaftung darlegen und mit den Teilnehmenden besprechen. Die unterschiedlichen Facetten der ärztlichen Sorgfaltspflicht, der ärztlichen Aufklärungspflicht und der Dokumentationspflicht werden darin ebenso thematisiert wie die Erstellung von schriftlichen Gutachten, das FMH-GGK und die Wichtigkeit der Kommunikation im Fall eines vermuteten Behandlungsfehlers.
2021 fand die Ausbildung zweimal statt: einmal in der Westschweiz und einmal in der Deutschschweiz.
2023 wird sie wieder in beiden Sprachregionen angeboten. Weitere Informationen zu dieser Ausbildung finden Sie hier.
Die Gutachterstelle deckt sowohl die deutsche, die französische und die italienische Schweiz ab. Das Team besteht aus den zwei Co-Leiterinnen und Rechtsanwältinnen Valérie Rothhardt und Caroline Hartmann, sowie den zwei Fachspezialistinnen Rebekka Iseli und Nathalie Andrey Mury, womit die deutsche und französische Schweiz vertreten sind. Mit lic. iur. Isabella Meschiari ist auch die italienische Schweiz vertreten.
Die Tätigkeit der Gutachterstelle wird durch den wissenschaftlichen Beirat im Auftrag des FMH-Zentralvorstands überwacht Er hat keine Entscheidungskompetenz, sondern entlastet den Zentralvorstand von seiner Aufsichtspflicht, prüft zur Qualitätssicherung stichprobenweise Gutachten und Nichteintretensentscheide und unterstützt die Gutachterstelle bei der Lösung allfälliger Schwierigkeiten in einem Fall. Der wissenschaftliche Beirat hat im 2021 acht Gutachten und sieben Nichteintretensentscheide geprüft.
Der wissenschaftliche Beirat setzt sich wie folgt zusammen:
Zahlreiche Akteure tragen zum guten Funktionieren der aussergerichtlichen FMH-Gutachterstelle bei. Wir danken den medizinischen Fachgesellschaften und ihren Delegierten für die wertvolle Unterstützung und den Gutachtern für ihre Verfügbarkeit und ihre grossartige Arbeit. Ebenfalls danken wir den behandelnden Ärzten sowie den Spitalleitungen und Versicherungen, die bei den Begutachtungen mitgewirkt haben.